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Trümmerwüste der Kieler Altstadt im Winter 1945/1946.

Heute vor 80 Jahren – Das vergessene Weihnachtsfest

Anfang Mai 1945 endete auch in Kiel der verheerende 2. Weltkrieg. Rund 5,3 Millionen Kubikmeter Schutt waren angehäuft, die Einwohnerzahl von 273.000 vor Kriegsbeginn auf 135.000 gesunken. Nahrungsmittelknappheit und Elend prägten den Alltag der Bevölkerung. Fortan zogen Flüchtlingstrecks aus den abgetrennten Ostgebieten in Schlesien und dem baltischen Raum durch Schleswig-Holstein, wo man bis zum Ende 1945 rund eine Million mehr Einwohner zählte als zu Kriegsende.

Natürlich hatte auch der Holsteinplatz an der Projensdorfer Straße zahlreiche Bombentreffer abbekommen. Tribüne und Spielfeld waren zerstört, die drei Nebenspielfelder konnten nur noch eingeschränkt genutzt werden. Bereits zwei Wochen nach Kriegsende begannen die Planungen für den Wiederaufbau, für den sich Männer wie der Unternehmer Egon Fleßner einsetzten. Erstmals nach langer Zeit trafen sich überlebende und vom Schlachtfeld heimkehrende Vereinsmitglieder wieder zum Fußballspielen und sie alle intensivierten die Bemühungen, so etwas wie einen „Normalzustand“ wieder herzustellen. „Alle haben mit angepackt und mit Trümmerschutt die Bombentrichter geschlossen“, berichtete Fleßner später. Und am 1. September 1945 kam es sogar zum allerersten Fußballspiel in Kiel seit Kriegsende: 5.000 Zuschauer auf der Waldwiese sahen ein 3:2 der KSV Holstein über den VfB Kiel. Unter den Torschützen für Holstein auch der legendäre Franz Linken, der nach dem Krieg eine Schlüsselrolle im Verein innehaben sollte.

Keine Zeit für Fußball

Doch den britischen Besatzern war vor allem die Wiederbelebung des Spielbetriebs ein Dorn im Auge – sie fürchteten sich vor einer schwer zu kontrollierenden Eigenständigkeit der Fußballbewegung. Ganz anders im Süden Deutschlands. In der amerikanischen Besatzungszone rollte in der erstklassigen Oberliga Süd bereits am 4. November 1945 das runde Leder wieder – und die Massen fanden eine überaus willkommene Abwechslung inmitten der zerstörten Städte. Doch in dem einst so wichtigen Marine- und Rüstungsstandort Kiel, in dem 80 % der Innenstadt, weite Teile der Wohn- und Industriegebiete und insgesamt rund 35 % aller Gebäude verwüstet waren, hatten die Menschen eigentlich gar keine Zeit für Fußball, denn ihre Stadt sah katastrophal aus.

Kein Tannenbaum, kein Lichterglanz

Besonders hart wurde es in der Fördestadt mit dem Einsetzen der kalten Jahreszeit. Die Bevölkerung hungerte und fror und im harten Winter 1945/46 ging es schlicht und einfach ums Überleben. Es war der Beginn einer schweren Notzeit in Nachkriegsdeutschland, die im folgenden extrem harten „Hungerwinter“ 1946/47 gipfelte, mit extremen Temperaturen von bis zu -25 °C, totalem Mangel an Nahrung und Heizmaterial, zerstörten Städten und überlasteter Infrastruktur. Schwarzmarkthandel und Diebstahl blühten in der einst so stolzen Hafenstadt. Kohle wurde von den Waggons gestohlen, die in der Wik und am Hafen standen. „Kein Tannenbaum, kein Lichterglanz, keine Geschenke oder gar Festtagsbraten – nichts von alledem, was zum richtigen Weihnachtsfest gehört, gab es an den Feiertagen 1945. Die Kieler Innenstadt lag im Schutt und Asche. Wir hatten eine Zukunft, eine sehr schlechte zwar. Aber sie ließ sich nicht wegdiskutieren“, berichtete der Kieler Karl-Heinz Reischuk später in seinem Aufsatz „Das vergessene Fest. Weihnachten 1945“. Das erste Fest nach dem großen Krieg blieb vielen allenfalls aufgrund der schweren Entbehrungen und Kriegsfolgen in Erinnerung.

Warten auf ein Lebenszeichen

Tiefschwarze Schatten hingen über den drei Feiertagen, auch wenn es das erste Weihnachtsfest seit Langem war, an dem die Fenster nicht verdunkelt waren. Die Menschen mussten sich endlich nicht mehr vor Fliegeralarm und Bombenangriffen fürchten. Ruhe war eingekehrt. Doch von Glück und Besinnlichkeit war nur wenig zu spüren. Geliebte Brüder, Väter und Ehemänner wurden vermisst. Viele Frauen waren im Krieg Witwen geworden, viele Kinder Waisen. Andere wiederum warteten sehnsüchtig auf einen Brief aus der Kriegsgefangenschaft oder auf ein Lebenszeichen der Vermissten. Viele Gefangene sollten erst zehn Jahre später heimkehren, unzählige Kieler Männer nie.

Die Hoffnung hatte überlebt

Weihnachten 1945 – heute vor 80 Jahren – war im Schein der hellen Kerzen in den meisten (zerstörten) Häusern still. Aus dem Fest der Familie war ein Fest der Sehnsucht geworden. Nicht nur in Kiel, sondern im gesamten zerstörten Land. Die Mischung aus Trauer, Hunger und Armut überschattete den Geist der Weihnacht. Die Illusion, dass es ein Fest der Freude sein würde, zerbrach. Vielleicht hatten sich die Menschen mehr vom Frieden erhofft als bloß das Ende vom Krieg. Womöglich verstanden sie erst zu Weihnachten 1945, dass es lange dauern wird, bis Normalität einkehren würde. Vor 80 Jahren ging das Weihnachtsfest unter. Doch die Hoffnung hatte den langen Krieg überlebt.

Der Zweite Weltkrieg hatte auch von Holstein Kiel unzählige Opfer gefordert.


Quellenangaben:
125 Jahre Holstein Kiel – Die Chronik (Bielefeld 2025)
MDR-Zeitgeschichte – Friedensweihnacht 1945: Kälte, Hunger und Sehnsucht (Leipzig 2021)
“Das vergessene Fest” von Karl-Heinz Reischuk (Kiel, 1995)

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