Mit den Helden einen heben

Boyens Engelhardt gründete 1981 mit seinen Kumpels den Fanclub „Blau-Weiß-Rot“. 40 Jahre später erinnert seine Kutte an ruhmreiche Zeiten und haarsträubende Geschichten

Schon etwas verblichen ist sein Namensschild aus Bundeswehrzeiten, genauso wie der BRD-Aufnäher, der noch deutlich vor der Wiedervereinigung auf den Jeans-Stoff genäht worden sein muss. Die Holstein-Kutte von Boyens Engelhardt ist ein Schmuckstück gelebter Geschichte Holstein Kiels, auf der weitere Aufnäher wie Tapferkeitsmedaillen sichtbar hervorstechen. Zu jedem hat der 55-jährige Gebäudereiniger eine Story zu erzählen.

Als sich Boyens und eine gute Handvoll halbstarker Burschen 1981 dazu entschließen, mit „Blau-Weiß-Rot“ einen der damals noch rar gesäten Holstein-Fanclubs zu gründen, spielt die KSV in der 2. Bundesliga Nord. Rot-Weiß Essen, Preußen Münster, Wattenscheid 09 und Göttingen 05 sind die Mannschaften, mit denen sich die Störche damals messen – Willi Cryns, Harry Witt und Immo Stelzer heißen die Helden des 16-jährigen Schülers Boyens, die an den Wochenenden auf dem Rasen für die Kieler auflaufen. Bereits drei Jahre jubelte der jugendliche Kieler zu der Zeit den KSV-Akteuren zu. Seit der Spielbegegnung der Störche gegen Wacker Berlin in der Aufstiegsrunde 1977/78, welche die Kieler mit 1:0 für sich entschieden, hatte ihn die Faszination für den Fußball an der Förde gepackt und nicht mehr losgelassen.

Erlege einen Löwen, trage eine Kutte

Doch einfach nur hin und wieder ins Stadion gehen, den Akteuren auf dem Rasen beim Kicken zuschauen und nach einem erfolgreichen Spiel der KSV wieder nach Hause stapfen? Für Boyens und seine Truppe gehörte damals schon mehr dazu. Es ging um das Gefühl, dazu zu gehören. Es ging um Anerkennung. Diesen verdienen sich Heranwachsende in manchen Teilen der Welt durch das Erlegen eines Löwen, an der Förde war dies durch das Tragen einer Vereins-Kutte der Fall.

Natürlich gehörte es zum guten Ton unter Gleichgesinnten, das eigene Prachtexemplar öffentlich zur Schau zu stellen und durch weitere „Trophäen“ anderer Vereine zu schmücken. Boyens sammelte so im Laufe der Jahre eine ganze Reihe weiterer Aufnäher, welche noch heute seine Kutte zieren. Die Stickereien auf den „Patches“ von Arminia Bielefeld, Alemannia Aachen, Eintracht Trier und Holstein Kiel sind noch deutlich zu lesen. „Holstein Kiel ist eine Religion“ steht auf einem der blau-weiß-roten Aufnäher.

Es bleibt in der Familie

Weil die Sicherheitsvorkehrungen und Einlasskontrollen wenig mit den heutigen Standards in Bundesliga-Stadien gemeinsam hatten, schmuggelten die Jugendlichen Bier und Schnaps auf die Ränge und verteilten diesen an gleichgesinnte Fans. „Wir waren das Fußvolk und haben um den Respekt der Älteren gebuhlt“, sagt Boyens heute. Die Jungs pulten die Gummiringe von den Flaschenhälsen der leeren Flensburger Bierflaschen und drückten sie über die Knöpfe ihrer Kutte. Noch heute verzieren sie so Boyens’ wertvollen Schatz, den er wie seinen Augapfel hütet und seit damals ungewaschen einen Ehrenplatz in seinem Kleiderschrank einnimmt. „Die kannst du mit der Hand durchbrechen, so trocken sind die“, sagt Boyens über die Gummiringe auf der Kutte, die nie eine Waschmaschine von innen gesehen hat. Dennoch profilierten sich die Mitglieder von Blau-Weiß-Rot nicht ausschließlich durch ihren Bierkonsum. Im Laufe seines Bestehens organisierte der Fanclub Weihnachtsfeiern und Fantreffen, lud sogar Spieler ein, um gemeinsam auf Siege anzustoßen. So legten Boyens und seine Truppe 1983 rund 2.000 Deutsche Mark zusammen und luden Thomas Gilica, Wlodek Zemojtel und den Rest der Mannschaft zu Bier und Schnitzel in die Gaststätte „Zur Grenze“ auf dem Kieler Ostufer ein. Viele von ihnen kamen, ließen sich „fürstlich bewirten“ und hörten sich die Geschichten an, welche die junge Fanvereinigung sich über ihre Fahrten mit den Störchen erzählten.

Von „Banane“, „Donald“ und „Drei-Finger-Joe“

Erzählen könnte Boyens den ganzen Tag von Geschichten aus den glorreichen Jugendtagen. Ins Schwärmen gerät der Holstein-Veteran noch heute, wenn er an vergangene Zeiten zurückdenkt. Aus einem jugendlichen Leichtsinn wäre um ein Haar jedoch bitterer Ernst geworden. Mit seinen Kumpels „Banane“, „Donald“ und „Drei-Finger-Joe“ fuhr Boyens zum Auswärtsspiel nach Bremen. Nach Abpfiff trauten die Kieler ihren Augen kaum, als einige der Gäste-Fans den Tankdeckel der Reisegruppe aufgeschraubt hatten und mit Feuerwerkskörpern auf das Auto der Truppe schossen. Die älteren Kumpanen konnten die Situation gerade noch so entschärfen. „Banane war ein Baum von einem Mann“, sagt Boyens. „Als er den Bremern drohte, nahmen die ihre Beine in die Hand“, berichtet er heute lachend über die Begebenheit an der Weser.

Es ist eine von vielen Geschichten, welche der Gebäudereiniger auch nach 40 Jahren wie aus dem Nähkästchen erzählen kann. Der einzige Zeitzeuge, der all diese Kuriositäten verifizieren könnte, ist die stillschweigende Kutte. Sie ist und bleibt ein Relikt aus einer Zeit, in der sich Spieler und Fans in der Kneipe trafen, um gemeinsam einen auf den KSV-Sieg zu heben.

Dieser Artikel ist Teil des Stadionmagazins zum Spiel gegen den FC Würzburger Kickers.

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